Die Entscheidung Wladimir Putins, die Ukraine anzugreifen, traf die 83 Föderationssubjekte Russlands unvorbereitet. Nach acht Kriegsmonaten zeigen sich in den Regionen die unmittelbaren Rückwirkungen des Krieges und die Folgen westlicher Wirtschaftssanktionen. Der Kreml versucht, die Regionen insbesondere für die Mobilisierung von Soldaten, die Herrschaftssicherung in den besetzten ukrainischen Gebieten und die Eindämmung der wirtschaftlichen Rezession in die Pflicht zu nehmen. Dabei verteilt sich die Last des Krieges ungleich auf die Verwaltungseinheiten. Trotz Kriegszensur, Staatspropaganda und Massenemigration entlädt sich auf lokaler Ebene Unmut über die Folgen des Krieges und den Umgang mit den gefallenen Soldaten.
Russlands Regionen sind ein wichtiger Bestandteil der russischen Kriegslogistik. Regionale Eliten sehen sich dabei mit der Herausforderung konfrontiert, gleichzeitig Loyalität gegenüber dem Kriegskurs der Führung in Moskau demonstrieren zu müssen als auch ihre Kompetenz als lokale Problemlöser und Herrschaftsinstrumente des Präsidenten unter Beweis zu stellen. Einerseits verschiebt sich dadurch die föderale Machtbalance weiter nach Moskau, da die Regionen in zunehmendem Maße der politischen Prioritätensetzung des Kremls ausgesetzt und auf föderale Transfers angewiesen sind. Loyalität gegenüber Putin und politische Beziehungen in die Herrschaftselite, die den Präsidenten umgibt, gewinnen noch mehr an Relevanz. Andererseits kommt den Regionen als administrative Instrumente autokratischer Steuerung eine herrschaftsstabilisierende Bedeutung zu, die mit begrenzter Kontrolle über die Implementierung der verhängten Maßnahmen verbunden ist. So führt der Krieg zwar kurz- und mittelfristig zur Zentralisierung der föderalen Machtbeziehungen; langfristig aber schafft er durch sozioökonomische Verwerfungen und politische Unsicherheit Risiken für den russischen Autoritarismus.
Der Begriff »Region« wird im Folgenden als Sammelbegriff für sechs Typen von Föderationssubjekten verwendet. Dazu zählen 21 Republiken, eine Autonome Oblast, vier Autonome Kreise (Okrug), neun Regionen, 46 Gebiete (Oblast) sowie zwei Städte. Zu diesen 83 Regionen kommen sechs in den vergangenen Jahren annektierte Gebiete. Am 18. März 2014 inkorporierte Russland völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim. Seitdem werden die Republik Krim und die Stadt Sewastopol als zwei weitere Föderationssubjekte geführt. Ferner annektierte Russland am 30. September 2022 Teile der Südostukraine, deren Oblaste nun von Russland als Republiken Donezk und Luhansk sowie Oblaste Saporischschja und Cherson behandelt werden.
Regional ungleiche Mobilisierung
Den Regionen kommt eine zentrale Stellung bei den Mobilisierungsanstrengungen des Kremls zu. Recherchen der Plattform Mediazona zeigen, dass allein im ersten Monat seit der Bekanntmachung der sogenannten Teilmobilisierung am 21. September 2022 knapp 500.000 Menschen zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Für ihre Erhebung griff Mediazona unter anderem auf Daten von Hochzeitsanmeldungen in den Regionen zurück. Die regionale Verteilung der Mobilisierten fällt dabei sehr ungleich aus. Betrachtet man das Verhältnis von Mobilisierten zur Bevölkerungszahl, so sind der Süden und Osten Russlands am stärksten betroffen, insbesondere die Regionen Amur, Transbaikalien, Chabarowsk, Burjatien sowie das Jüdische Autonome Gebiet. In absoluten Zahlen wurden die meisten Menschen in der Republik Baschkortostan und in den Regionen Krasnodar und Moskau mobilisiert. Der Blick auf absolute Zahlen ist jedoch trügerisch: Krasnodar und Moskau zählen zu den am dichtesten besiedelten Regionen. Relativ gesehen war Moskau hingegen am wenigsten von der Mobilisierungskampagne betroffen. Insgesamt wurden seit Mitte September schätzungsweise 1,56 Prozent der männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 49 Jahren eingezogen.
Die hohen Verluste auf dem Schlachtfeld in der Ukraine hatten den Kreml bereits einige Wochen nach Kriegsbeginn zu einer »Schattenmobilisierungskampagne« veranlasst. Bereits diese wies eine hohe regionale Varianz auf und nahm die Muster der späteren Teilmobilisierung vorweg. Die Kampagne zielte darauf, über Online-Jobbörsen Personal auf Vertragsbasis für den Militärdienst zu rekrutieren. Auch nach der Verkündung der offiziellen Teilmobilisierung im September werden entsprechende Anwerbungen über private Militärfirmen und die Nationalgarde organisiert. Im Fokus der Rekrutierungsbemühungen stehen sowohl militärisch vorgeschultes als auch lediglich mit Kampfwillen ausgestattetes Personal. Darüber hinaus sind in mehreren Föderationssubjekten Freiwilligeneinheiten ausgehoben worden. Die Initiative dazu ging zwar oft von den Regionalverwaltungen aus, die Organisation verlief aber maßgeblich über Mittelsmänner und informelle Kanäle in den sozialen Medien.
Überrepräsentation von Minderheiten und Armen unter den Toten
Es sind Russlands ethnische Minderheiten im Süden und Osten des Landes sowie ärmere Bevölkerungsgruppen, die in überproportionaler Zahl unter den in der Ukraine gefallenen Soldaten der russländischen Armee zu finden sind. (Der Begriff »russländisch« bezieht sich im Folgenden auf die Russische Föderation insgesamt, »russisch« hingegen auf ethnisch Russisches.) Dieser Trend hat sich bereits seit Kriegsbeginn abgezeichnet und wird von der offiziellen Teilmobilisierung verstärkt. Die Verteilung der Toten folgt somit den regionalen Mustern der Rekrutierung. Gleichzeitig verschweigt der Kreml seit dem Beginn der Invasion das tatsächliche Ausmaß des Krieges und die Zahl der Gefallenen vor der russländischen Öffentlichkeit. Es obliegt daher den Kommunen, einen Umgang mit den – nach konservativen Berechnungen – Zehntausenden gefallenen Soldaten zu finden, die der Krieg bis jetzt gefordert hat.
Generell ist der Anteil ethnischer Minderheiten unter den in der Ukraine eingesetzten Einheiten der russländischen Armee höher als ihr jeweiliger Anteil an der Gesamtbevölkerung. Schätzungen zufolge verzeichneten bis April 2022 die Regionen Dagestan, Inguschetien und Nordossetien im Kaukasus und Burjatien, Tschukotka und Tuwa im russländischen Fernen Osten die höchsten Verlustzahlen. Nach Angaben von Journalisten der Plattform »Menschen des Baikals«, die offen zugängliche Daten zu gefallenen Soldaten ausgewertet haben, stieg in den ersten drei Monaten des Krieges die Sterblichkeitsrate burjatischer Männer im Alter von 18 bis 45 Jahren um 63 Prozent und die junger Männer unter 30 Jahren um 300 Prozent. Aus Moskau hingegen stammte keiner der ermittelten Toten. Die hohen Todeszahlen nicht nur in Regionen mit ethnischen Minderheiten, sondern auch mit ausgeprägter Armut, etwa Wolgograd, Baschkortostan oder Orenburg, legen somit den Schluss nahe, dass die menschlichen Kosten des Krieges – neben den Ukrainerinnen und Ukrainern – überproportional von Russlands Minderheiten und Armen bzw. armen Minderheiten getragen werden.
Um die öffentliche Verbreitung der tatsächlichen Todeszahlen in den Regionen zu unterbinden, geht die russländische Führung mit Hilfe des Inlandsgeheimdiensts FSB hart gegen lokale Medien und kritische Journalistinnen und Journalisten vor. So blockierte etwa Roskomnadzor, Moskaus Zensurbehörde, bereits im April den Zugang zum lokalen Medienportal Ljudi Baikala, dessen Reporterinnen und Reporter zuvor über die massiv gestiegene Sterblichkeit unter jungen Männern in Burjatien berichtet hatten. Anderen Medien, die darüber informiert hatten, dass das Durchschnittsalter der Gefallenen 28 Jahre betrage, drohte das Justizministerium mit hohen Geldstrafen und Strafverfahren.
Gesellschaftlicher Protest in den Regionen
Zensur und Repression können jedoch nicht verhindern, dass sich das Unbehagen über das Soldatensterben auf der Ebene der lokalen Öffentlichkeiten Bahn bricht, wo regelmäßig Ehefrauen die Heimkehr ihrer Männer fordern. Die Überrepräsentation ethnischer Minderheiten unter den Gefallenen verstärkt in den betroffenen Bevölkerungsgruppen das Gefühl, für die Kriegsabenteuer eines imperialen Zentrums instrumentalisiert zu werden. Im Gegensatz zu den urbanen Ballungsräumen Moskau und St. Petersburg, wo sie auf paradoxe Weise abwesend ist, lässt sich die Realität des Krieges durch die täglich stattfindenden Beerdigungen in anderen Regionen nicht vor der Öffentlichkeit verbergen. Die von Teilen der ethnischen Minderheiten empfundene innerrussländische Kolonialität des Krieges hat sich etwa im Verwaltungsbezirk Kazan in vereinzelten Unmutsbekundungen in Form von T‑Shirt-Kampagnen unter dem Slogan »Ich bin nicht russisch!« (Ja ne russki!) geäußert. Auch die Massenproteste in Dagestan nach der Verkündung der Teilmobilisierung stehen für den Widerwillen von Angehörigen ethnischer Minoritäten Russlands, als neo-imperiales Kanonenfutter in der Ukraine eingesetzt zu werden.
Der punktuellen und lokalen öffentlichen Kritik im Internet steht die über das Fernsehen und staatliche Printmedien verbreitete Propaganda gegenüber, in der die menschlichen Verluste des Krieges fast vollständig ignoriert werden. Auch regionale Behörden sind mittlerweile von einer Strategie der Anteilnahme in den ersten Kriegswochen, etwa durch die Präsenz bei Trauerfeiern für gefallene Soldaten, zu öffentlicher Zurückhaltung übergegangen. Während es den Gouverneuren unmittelbar nach Kriegsbeginn noch um die Absicherung der eigenen Legitimität gegenüber der regionalen Bevölkerung ging, dominiert unter ihnen mittlerweile die Angst, eine Solidarisierung mit den vom Krieg betroffenen Familien könne als Illoyalität gegenüber der Kriegspolitik des Kremls ausgelegt werden.
Den bisher radikalsten gesellschaftlichen Widerstand gegen Russlands Invasion der Ukraine stellt eine Kette von vereinzelten Brandanschlägen auf regionale militärische Rekrutierungsbüros dar, die sich von Moskau bis nach Wladiwostok erstreckt. In Primorje im äußersten Osten der Russischen Föderation etwa ging einer solchen Attacke auf ein lokales Rekrutierungsbüro ein Aufruf in den sozialen Medien voraus. Darin forderten die Verfasser, Kommissariate in Brand zu setzen und versprachen finanzielle Belohnungen für entsprechende Akte. Ferner ist es seit Beginn des Krieges zu vereinzelten Sabotageakten unbekannter Urheberschaft auf Bahntrassen gekommen, auf denen Kriegsmaterial von Russlands östlichen Regionen an die Westfront transportiert wird. Unter dem Banner »Stopp die Wagen!« (Ostanowi wagoni!) dokumentiert ein unbekanntes Kollektiv in sozialen Netzwerken Taten und gibt technische Anleitungen für Sabotageakte.
Dass lokaler Unmut nicht in größere Proteste umschlägt, liegt neben der staatlichen Repression und der kontinuierlichen Zerschlagung der politischen Opposition in den vergangenen Jahren zum einen an mehreren massiven Auswanderungswellen seit Kriegsbeginn. Schätzungsweise 900.000 Menschen – 200.000 vor, 700.000 nach der Teilmobilisierung – haben seitdem das Land verlassen. Zum anderen besteht durchaus eine relative ökonomische Attraktivität des Kriegsdiensts, wenn man sich für den Eintritt in eines der regionalen Freiwilligenbataillone oder den temporären Kriegsdienst auf Vertragsbasis entscheidet. Wenngleich das versprochene Grundgehalt moderat ist, können durch verschiedene Boni umgerechnet etwa 4.000 US-Dollar pro Monat verdient werden. Hinzu kommen diverse Vergünstigungen, etwa Baukredite zu niedrigen Zinsen. Vor dem Hintergrund eines russländischen Vorkriegs-Durchschnittseinkommens von 600 US-Dollar verfangen entsprechende Angebote vor allem in ökonomisch deprivierten Regionen. Die wirtschaftliche Rezession und der Wegfall alternativer Einkommensquellen machen die Armee – eine der wenigen verbliebenen Wege zu Verdienst-, Reise- und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten – sowohl für zahlreiche junge Männer als auch für ältere Arbeitslose mit militärischer Vorerfahrung durchaus attraktiv.
Vereinzelte Kritik aus der Regionalpolitik
Seit Kriegsbeginn ist es lediglich punktuell zu Unmutsbekundungen politischer Eliten in den Regionen gekommen. So forderten zwei Abgeordnete der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) in der regionalen Duma Primorjes den sofortigen Abzug der russländischen Truppen aus der Ukraine. Der Vorsitzende der KPRF in Primorje versprach daraufhin die »härtesten Maßnahmen« gegen die Abweichler. Einzelne KPRF-Mitglieder aus den Regionen, unter anderem aus Woronesch, Komi und Jakutien, kritisierten ebenfalls den Krieg. Wjatscheslaw Markajew aus Burjatien beklagte, die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sei lediglich ein Vorwand für einen Krieg mit sinnlosen Opfern gewesen, während das Land auf junge arbeitende Männer angewiesen sei. Gemeinsam mit mehreren außerparlamentarischen Gruppierungen hat der sehr aktive und junge Moskauer KPRF-Abgeordnete Jewgeni Stupin sogar ein linkes Antikriegsbündnis gegründet. Die Parteiführung der KPRF unterstützt hingegen die Regierungslinie, wonach in der Ukraine der Faschismus bekämpft werde, und nahm mehreren KPRF-Mitgliedern, die sich kritisch geäußert hatten, die Parteiausweise ab.
Weder ethnischer Unmut, punktuelle politische Kritik der systemischen Opposition noch anonyme Sabotageakte konnten jedoch bisher die Kriegsanstrengungen des Kremls nachhaltig schädigen.
Russlands Gouverneure im Loyalitäts- und Kompetenztest
Ferner sind seit Kriegsbeginn auch von den Gouverneuren der russländischen Regionen keine politischen Impulse für eine Infragestellung des Moskauer Kriegskurses ausgegangen. Zu hoch sind die politischen und individuellen Risiken, auch wenn die Kriegskosten für die Regionen enorm sind und damit das Potential langfristiger Destabilisierung zunimmt. Gleichzeitig haben nur wenige Gouverneure versucht, sich durch eigene Truppenbesuche in der Ukraine und eine öffentliche und proaktive Unterstützung der Kriegsentscheidung gegenüber dem Kreml zu profilieren. Die meisten Gouverneure beschränken sich darauf, den Spagat zwischen der Erfüllung der Vorgaben, die die Präsidialadministration an sie heranträgt, und der Wahrung lokaler Stabilität zu bewerkstelligen.
Am lautesten hat sich Ramsan Kadyrow für den Krieg ausgesprochen, der Anführer der Republik Tschetschenien. Dessen Truppen kämpfen gemeinsam mit der regulären russländischen Armee in der Ukraine, unterstehen jedoch dem persönlichen Kommando des archaisch und kriegslüstern auftretenden Kadyrow. Hinter der bedingungslos scheinenden Unterstützung Putins steht höchstwahrscheinlich das rationale Kalkül des Tschetschenenführers, die erwiesene Loyalität in den kommenden Jahren in stabile Finanzströme aus Moskau ummünzen zu können.
Ferner reiste Oleg Koschemjako, Gouverneur der fernöstlichen Region Primorje, bereits mehrmals in die Ostukraine. Koschemjako, der als einziger Politiker bereits in vier verschiedenen russländischen Regionen als Gouverneur tätig war, gilt in seiner Funktion als loyaler Problemlöser mit hervorragenden Beziehungen nach Moskau und Karriereambitionen auf föderaler Ebene. Insofern liegt es nahe, seine Unterstützungsaktionen vor allem als Loyalitätsbekundung gegenüber dem Präsidenten zu sehen.
Nachdem Koschemjako sich zuvor in Primorje mit ukrainischen Flüchtlingen getroffen hatte, galt sein Osterbesuch der 155. Brigade der Marineinfanteristen der russländischen Pazifikflotte, die im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt wird. Ein anderes Mal ließ sich der Gouverneur im Umfeld einer humanitären Hilfslieferung für Soldaten aus der Region sehen. In Primorje selbst hat Koschemjako lokale Unternehmen angehalten, gezielt ukrainische Flüchtlinge einzustellen. Zudem reagierte die eng mit der regionalen Verwaltung verbundene Fernöstliche Föderale Universität in Wladiwostok auf ein Dekret Putins und hält nun zehn Prozent der staatlich geförderten Studienplätze für Kinder von Soldaten vor, die in der Ukraine kämpfen. Seit Mai sind an prominenten Orten in Wladiwostok zudem Plakate zu sehen, die mit dem in den ersten Kriegstagen kreierten Symbol Z gekennzeichnet sind und zum Militärdienst auf Vertragsbasis auffordern. Lokalzeitungen in Primorje werben mit Angeboten für das Tigr-Freiwilligenbataillon, das die in der Ukraine eingesetzte Marineinfanterie der Pazifikflotte unterstützt. Auch das private Militärunternehmen Wagner hat mittlerweile ein Rekrutierungsbüro in Wladiwostok eröffnet.
Der Gouverneur von St. Petersburg, Alexander Beglow, besuchte Anfang Juni die vom Krieg nahezu vollständig zerstörte ukrainische Stadt Mariupol. Bereits vor dem Besuch hatten Beglow, Denis Puschilin, der Anführer der sogenannten Donezker Volksrepublik, und Konstantin Iwaschenko, der von Russland neu eingesetzte Bürgermeister Mariupols, eine Vereinbarung getroffen. Darin erklären sich St. Petersburg und Mariupol offiziell zu Partnerstädten und verpflichten sich zu einer umfangreichen Zusammenarbeit und Wiederaufbauhilfe auf den Gebieten des Handels, des Bauwesens, der Infrastrukturentwicklung, des Eisenbahnwesens, der Bildung und Kultur sowie der Gesundheitsversorgung.
Beglows Initiativen sind ein Beleg für dessen Loyalität gegenüber dem gebürtigen Petersburger Putin – die zweitgrößte Stadt Russlands hatte sich bereits durch eine besonders intensive Schattenmobilisierungskampagne hervorgetan – und können zudem als außenwirtschaftliches Förderprogramm für Petersburger Unternehmen gesehen werden. Ferner steht das Petersburger Modell für die Strategie des Kremls, durch verordnete Schirmherrschaften russländischer Städte für Gemeinden in der Südostukraine Teile der Kriegs- und Wiederaufbaukosten in den besetzten ukrainischen Gebieten auf die offiziellen oder verdeckten Haushalte der Regionen abzuwälzen. Zum Patenschaftsprogramm gehört auch die Entsendung mittlerer und unterer Verwaltungsangestellter und Arbeiter in die besetzten ukrainischen Gebiete. Bis Ende Juni hatten sich jedoch nur 18 Regionen in Russland bereiterklärt, diese im Mai verkündete persönliche Initiative Putins umzusetzen – unter anderem Moskau, dessen Bürgermeister Sergej Sobjanin Hilfe für den infrastrukturellen Wiederaufbau der Städte Donezk und Luhansk zusicherte. Die Präsidialadministration ordnete schließlich weitere 24 Regionen an, sich zu beteiligen. Ausgenommen waren kleine und stark subventionierte Föderationssubjekte sowie solche, in denen die Kandidaten der Staatspartei Einiges Russland (ER) nur über eine geringe Mehrheit verfügten. Der für Anfang Herbst fest eingeplante (und schließlich »errungene«) Sieg in den Regionalwahlen sollte nicht gefährden werden.
»Kreative Lösungen« zur Rettung regionaler Entwicklungsziele: Gouverneure unter Druck
Seit Kriegsbeginn stehen die Gouverneure unter besonderer Beobachtung. Putin hatte den Verwaltungschefs bereits im März mehr Freiräume bei der »kreativen Lösung« wirtschaftlicher Probleme versprochen, die der Krieg und die Sanktionen verursachen. Damit übertrug er die politische Verantwortung für den Umgang mit den ökonomischen Verwerfungen des Krieges an die Regionen. Diese sollen, so Putin, alle laufenden Entwicklungs- und Bauprojekte wie geplant weiterführen, um Nachfrage für jene in Russland produzierten Produkte zu generieren, denen nun der Exportweg versperrt ist. Inwiefern die jeweiligen Gouverneure es schaffen, ihre in der Realität sehr begrenzten Spielräume zu nutzen, wird entscheidend dafür sein, wie sie vom Kreml eingeschätzt werden. Dabei wird die Unterstützung der regionalen Oberhäupter ungleich ausfallen und vor allem politischen Kriterien folgen. Tschetschenenführer Kadyrow etwa wird dank seiner loyalen Kriegsdienste weiter auf Moskauer Subventionen zählen können. Auch die Region Kemerowo, wo Gouverneur Sergej Ziviljow, ein eingeheirateter Verwandter Putins, regiert, kann auf eine Extra-Unterstützung ihrer Kohleindustrie zählen, die dort unter Druck geraten ist.
Dabei treffen die Sanktionen die Regionen in ungleicher Weise. Zwar verzeichneten Sibirien, der Ferne Osten und der Nordkaukasus aufgrund postpandemischer Erholungseffekte bis März noch steigende Wachstumsraten in der industriellen Produktion. Mittlerweile ist das Wachstum jedoch in ganz Russland eingebrochen. Besonders betroffen sind Regionen mit umfangreicher Industrieproduktion und einem vormals hohen Anteil ausländischer Direktinvestitionen. Dies gilt etwa für die Automobilproduktion in Samara oder Kaluga, die petrochemische Industrie in Nischni Nowgorod oder den Maschinenbau in Mari El, Tatarstan, Samara und Uljanowsk. Russlands westliche Regionen mit ihrer historisch gewachsenen Ausrichtung nach Europa und die größeren Städte wie Moskau und St. Petersburg verzeichnen vor allem durch den Rückzug westlicher Unternehmen Einbrüche ihrer Wirtschaftstätigkeit. Seit der offiziellen Bekanntmachung der Teilmobilmachung am 21. September haben zudem mehrere Hunderttausend Russen das Land verlassen. Dies verstärkt den Brain Drain, der bereits mit Kriegsbeginn einsetzte, und verschlimmert den Arbeitskräftemangel für russländische Unternehmen.
Um die wirtschaftlichen Verwerfungen in den Regionen zu minimieren, wurden ferner Gesetze auf den Weg gebracht, die das Finanzministerium ermächtigen, Kredite aus Haushaltsmitteln in Höhe von 390,7 Milliarden Rubel zu verteilen. Dies soll den Regionen ermöglichen, Schulden bei internationalen Banken und Institutionen zu bedienen. Zudem setzt ein Gesetz für das Jahr 2022 die Pflicht der Regionen aus, frühere Kredite aus dem Föderationshaushalt zurückzuzahlen. Monetäre Zuwendungen des Staates können jedoch zumindest kurz- und mittelfristig nicht die regionalen Notlagen beseitigen, die sich aus der sanktionsbedingten Unterbrechung von Lieferketten ergeben haben. Auch kam es in einigen Betrieben zu ausbleibenden Lohnzahlungen und zu Streiks, die die lokalen Strafverfolgungsbehörden auf den Plan riefen. Regionale Produktionsprobleme wirken sich zudem ihrerseits auf die Importsubstitutionspläne nationaler Player aus.
Auch vergleichsweise wohlhabende Regionen mit ausgeprägter Ölproduktion, wie etwa Komi, Tatarstan und Tjumen, oder metallurgischer Industrie, die derzeit von hohen Weltmarktpreisen für Rohstoffe profitieren, sind perspektivisch mit dem Wegbrechen westlicher Absatzmärkte und Schwierigkeiten bei der Beschaffung ausländischer Komponenten zur Wartung der Fördertechnologie konfrontiert. Inwiefern diese Regionen, wie vom Kreml verkündet, neue Exportmärkte, etwa in China, erschließen oder alternative Lieferketten über Drittländer wie die Türkei aufbauen können, ist noch nicht absehbar. Selbst das reiche Moskau muss sich anpassen: So rief Bürgermeister Sobjanin eine Arbeitsgruppe mit dem euphemistischen Namen »Kommission für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung« ins Leben, um die ambitionierten Bauprojekte der Stadt auf die neuen Sanktionsbedingungen einzustellen.
Gleichzeitig haben Regionen mit umfangreicher Landwirtschaft, etwa Krasnodar und Rostow, vom zwischenzeitlichen Wegfall der ukrainischen Konkurrenz und hohen Weltmarktpreisen profitiert. Mit der seit Juli beobachtbaren Normalisierung der globalen Getreidepreise und der Wiederaufnahme von Exporten aus der Ukraine dürfte diese Konjunktur jedoch nur temporär gewesen sein. Der Ferne Osten Russlands, für den der Kreml einen Ausbau der Landwirtschaft mit dem strategischen Ziel der regionalen Nahrungsmittelautarkie angeordnet hatte, wird damit auf einem wichtigen Gebiet in seiner Entwicklung zurückgeworfen. In der Region Primorje betrifft dies beispielsweise Projekte in der Milch-, Schweinefleisch-, Gemüse- und Kräuterherstellung, die mangels westlicher Ausrüstung (einstweilen) gestoppt wurden. Inwiefern das Nachbarland China als neue Importquelle von Agrarmaschinen erschlossen werden kann, ist wegen zahlreicher gegenseitiger Einfuhrbeschränkungen bei Agrartechnologie und ‑produkten noch offen.
Die Rückwirkungen des Krieges haben ferner massive Auswirkungen auf die innerrussländische Logistik. Russlands Verkehrsminister Witali Saweljew zufolge haben die westlichen Sanktionen »praktisch die gesamte Logistik in unserem Land ruiniert«. Aufgrund versperrter Exportwege gen Westen und des Rückzugs westlicher Versicherungs- und Cargofirmen aus dem russländischen Markt ist Russland beim Warenverkehr vermehrt auf das Schienennetz bzw. kleinere Häfen in den nicht-westlichen Regionen der Föderation angewiesen. Neben einem Ausbau des bereits vor Kriegsbeginn chronisch überlasteten Schienentransportsystems des Landes erfordert die Anpassung der innerrussländischen Logistik nun Investitionen in Brücken, Straßen und Hafenzufahrten. Im Zuge dessen ist nicht auszuschließen, dass einige Regionen in Sibirien oder dem Fernen Osten von neuen Investitionen in die Infrastruktur profitieren. Vor der Bereitstellung entsprechender Finanzmittel stehen jedoch hohe Hürden: So haben die USA mittlerweile die Fernöstliche Bank (FEB), die größte regionale Bank im russländischen Fernen Osten und Ostsibirien, sanktioniert. Auch das staatliche Entwicklungsunternehmen VEB.RF (früher Wneschekonombank), das vom Putin-Vertrauten Igor Schuwalow geführt wird, ist von Sanktionen betroffen.
Vor diesem Hintergrund schlägt der Vize-Ministerpräsident und Bevollmächtigte des Präsidenten für den Fernen Osten Juri Trutnew vor, in der Transbaikal-Region mit ihrer Nähe zum chinesischen Nachbarn grenzüberschreitende Erweiterte Sonderwirtschaftszonen (ESWZ) einzurichten. Diese sollen die wirtschaftliche Ausrichtung der russländischen Regionen nach Osten, also vor allem nach China, zementieren. Etwaigen sanktionsbedingten Problemen bei den geplanten fernöstlichen Projekten begegnet Trutnew mit der Zuversicht, fehlende Produkte zukünftig in der Region selbst herstellen zu können. Hierzu will man die Kooperation mit Nordkorea ausbauen, etwa bei der Anwerbung nordkoreanischer Bauarbeiter und der Ausbildung von IT-Spezialisten.
Insgesamt hat die wirtschaftliche Rezession durchaus das Potential, die soziale Stabilität in den Regionen zu gefährden. In den fernöstlichen Regionen etwa wirken sich die Sanktionen bereits negativ auf die Mobilität der Bevölkerung aus. Weil amerikanische Firmen Leasingverträge storniert haben, mussten einige lokale Fluggesellschaften ihren Betrieb stark einschränken oder einstellen. Zudem können Flugzeuge nicht mehr vorschriftsgemäß gewartet werden, was die Sicherheit der Reisenden gefährdet. Auch regionale Serviceindustrien sind von den Sanktionen betroffen. Während die Behörden in größeren Städten Finanzhilfen zur Verfügung stellen, werden die betroffenen Sektoren in anderen Regionen oft sich selbst überlassen.
Krieg nach außen – föderaler Zentralisierungsschub im Inneren
Die Unterordnung der nationalen und regionalen Entwicklung unter den Kriegswillen des politischen Zentrums führt im Verhältnis zwischen dem Kreml und den Regionen zu einem Zentralisierungsschub. Die intra-föderale Machtbalance verschiebt sich weiter Richtung Moskau, da die Regionen in noch höherem Maße als vor dem Krieg auf Subventionen angewiesen sind und der politischen Prioritätensetzung des Zentrums unterliegen. Bei der Verteilung von Ressourcen werden politische Kriterien weiter an Relevanz gewinnen. Regionen wie die annektierte ukrainische Krim-Halbinsel und der Ferne Osten Russlands, aber auch der Nordkaukasus dürften sich ob ihrer geopolitischen Bedeutung der weiteren politischen Aufmerksamkeit des Zentrums sicher sein. Ferner werden innenpolitisch in noch stärkerem Maße politische Verbindungen und Loyalitäten eine Rolle spielen, die zudem einem verabsolutierten Stabilitätsimperativ untergeordnet sein werden.
Kritik an den Kriegsfolgen seitens regionaler politischer Eliten ist bisher weitgehend ausgeblieben. Zu hoch ist das Risiko, die eigene Gouverneurs- oder Verwaltungskarriere zu gefährden. Andererseits haben nur wenige Entscheidungsträger in den Föderationssubjekten versucht, ihre Loyalität zum Kreml durch eine proaktive Instrumentalisierung des Krieges unter Beweis zu stellen, indem sie sich an der ukrainischen Front präsentieren. Der Grund dafür mag sein, dass in den Regionen die Toten des Krieges und die wirtschaftlichen Belastungen durch die Sanktionen besonders sichtbar sind, aber auch der Umstand, dass die Regionen vollkommen unvorbereitet mit der Kriegspolitik des Kremls konfrontiert wurden.
Die Kombination aus extremer politischer Zentralisierung, sozioökonomischen Verwerfungen und radikaler Unsicherheit, die die Regionen derzeit kennzeichnet, birgt Krisenpotential. Die Erosion des Putinschen Stabilitätsversprechens kann sich langfristig zersetzend auf das personalisierte Herrschaftssystem Russlands auswirken. Vor diesem Hintergrund trägt die westliche Sanktionspolitik nicht nur zu einer langfristigen Schwächung der russländischen Wirtschaft bei, sondern hat mittelfristig und im Zusammenspiel mit den politischen Strukturen in Russland auch den unintendierten Nebeneffekt einer Zentralisierung der föderalen Beziehungen des Landes. Weder von den Gouverneuren noch von lokalen Unmutsbekundungen sollten daher kurzfristig Impulse für eine Infragestellung des politischen Status quo in Russland erwartet werden.
Sebastian Hoppe ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2022A70